Zeitgenössische Kurzgeschichten

Aus einem “Schreibspaß” heraus (E-writers-Forum///www.ewriters.eu/) entstand im Mai 2013 folgende Kurzstory:

 

DER INNERE SCHWEINEHUND

(c) Helene Luise Köppel

Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich“, säuselt es aus dem Radio. Charly knirscht mit den Zähnen. War das auf ihn gemünzt? Wundern würde es ihn nicht!

Ein Blick auf die Uhr und er hievt sich schwerfällig aus dem Sessel seiner Großmutter. Die Federn des honiggelben Ungetüms ächzen unter seinem Zwei-Zentner-Zwanzig-Gewicht. Wie sagte der Kneuers Sepp immer? „Deine Jahresringe nehmen stündlich zu!“

Jahresringe? Charly grinst. Fette Blutwurst, fette Haxen, Leberkäsesemmeln. Tagein, tagaus. Seit Omas Tod. Als ob er es nicht besser wüsste. Kein Wunder, dass sich keine Sau für ihn interessierte und er den November-Blues mitten im Juni bekam. Zur Unzeit. Un-Zeit – was für ein Wort! Un-heimlich dick mit der Zeit ist er geworden.

Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich“, summt Charly noch draußen auf dem Korridor, wo die alten Dielen unter seinem Gewicht hörbar stöhnen. Er öffnet die Tür zum Treppenhaus und klemmt wie immer vorsichtshalber Omas hellgrauen Stöckelschuh dazwischen. Mit dem zweiten hat sich der Kater kürzlich davongemacht. Beide sind seitdem spurlos verschwunden. „Kein Schwein ruft mich an, keine Katz interessiert sich für mich …“

Der erste Treppenabsatz ist geschafft. Charly keucht. Die verdammten Knie. Ein Geeiere sondergleichen, vor allem abwärts. Un-heimlich weh tat das! Er musste abnehmen. Un-bedingt!

Er sieht es schon von weitem: Aus dem Briefkasten spitzt ein rosafarbener Umschlag!!!

Charly leckt sich die Unterlippe. „Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich …“ pfeift er, schließt den Kasten auf, holt den Umschlag raus, studiert genüsslich die Adresse. Er grinst, denn er hört bereits den Sepp von oben kommen.

Der keckert bei Charlys Anblick. „Isolde“, schreit er ins Treppenhaus hinauf, während er auf die gestochen scharfe Handschrift auf dem Umschlag stiert, „unser Nachbar hat Post! Ein Briiief! Ein Liebesbriiief!“

Charly hört, wie Isolde vor Freude quietscht.

Sepp boxt Charly in die Seite. „Hab ich recht?“, flüstert er. “Sag schon, Alter! Spuck`s aus!”

Charly zuckt geheimnisvoll die Achseln und wedelt mit dem Umschlag. „Ein Kavalier genießt und schweigt“, sagt er unbestimmt und macht sich wieder auf den Weg nach oben. Die Knie schmerzen, aber irgendwie fühlt er sich beschwingt.

In der Küche reißt er den Umschlag auf, nimmt die leeren Blätter heraus, starrt sie eine Weile entgeistert an, schüttelt über sich selbst den Kopf, und steckt sie dann – er ist schließlich kein Papierverschwender – in einen der fünf rosafarbenen Umschläge, die er vor zwei Tagen mit verstellter Schrift an sich selbst adressiert hat. Dann macht er sich wieder seufzend auf den Weg nach unten, um zum Postamt zu laufen, das sich neben dem Fitness-Center befindet. Vielleicht schaffte er es ja heute, den inneren Schweinehund zu überlisten, damit sich auch mal wieder ernsthaft jemand für ihn interessierte.


Das im Text erwähnte Lied “Kein Schwein ruft mich an … ” stammt von Max Raabe (1992) 

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