Troyes – die Kirche der Magdalena

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Die Kirche der Magdalena ist die älteste gotische Kirche in Troyes.

Sie stammt aus der Mitte des 13. Jh. Bei späteren Umbauten wurde sie mit einem gotischen Portal (1525) und einem Renaissance-Turm (1560) ausgestattet.

Die “Schule von Troyes”

Zwischen Gotik und Renaissance entwickelte sich in Troyes ein ganz eigener Stil – die sog. “Schule von Troyes” -, die Schlichtheit mit Eleganz verband. Ein Meisterwerk dieses Stils ist die Heilige Marthe (die Schwester der Heiligen Magdalena), die sich im rechten Arm der Vierung befindet.

Der Lettner

Zu Beginn des 16. Jh. bekam die Magdalenenkirche einen neuen Chor im sog. Flamboyant-Stil. Der Lettner (ein Trennelement in Kirchen) wurde von dem Architekten Jean Gaide unter Mitwirkung des Bildhauers Nicolas Halins – einem der Vertreter der Schule von Troyes – gebaut.

Die Fenster

Die Fenster der Magdalenenkirche von Troyes sind das Werk lokaler Glasmaler und zeugen ebenfalls von dem neuen Kunststil, der sich in dieser Stadt entwickelt hat.

Das zweite Fenster ist das sog. “Magdalenenfenster” – es zeigte Ausschnitte aus ihrem Leben, z.B. auch eine Noli me tangere – Szene:

Das berühmte Magdalenenfenster

Der fleißige Robert 

Die schöne Holzstatue rechts zeigt Robert de Molesmeeinen berühmten Benediktiner aus der Nähe von Troyes. Nachdem sich die Mönche von Saint-Michel-de-Tonnere weigerten, seine Reformversuche anzunehmen, überredeten ihn sieben Eremiten, die im Wald lebten, ihr Abt zu werden.
Zwei von ihnen reisten nach Rom, um baten beim Papst um die Erlaubnis, Robert zu ihrem geistlichen Führer zu machen. 1074 gründete Robert mit den sieben Eremiten das berühmte Kloster Molesme in Burgund – dessen Holzhütten nebst Kapelle damals im Wald standen.

1098 gründete er das Kloster Citeaux – und schon bald gab es über dreißig abhängige Priorate sowie einige Nonnenklöster.

Der Heilige Antonius mit dem Kinde (Kindles-Toni) fehlt in keiner französischen Kirche.

Die “Himmelskönigin” mit Zepter und offenem Buch

Maria als junge Mutter:

Ein letzter Blick ins KirchenInnere:

Und nach dem Verlassen der Magdalenenkirche noch ein neugieriger Blick auf das Portal:

… sowie eine Inspizierung des Kräutergartens der Maria Magdalena, der sich hinter der Kirche befindet:

Troyes – ein zweites Rom?

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Troyes ist eine interessante und sehenswerte Stadt im Nordosten Frankreichs, Verwaltungssitz des Départements Aube in der Region Grand Est. Troyes liegt an der Seine und hat ca. 60 000 Einwohner.

Geschichtliches:

Der ehemalige Hauptort des Keltenstammes der Tricassen (Tricassii oder Tricasses) wurde von den Römern Augustobona Tricassium oder Augustomana Tricassiorum genannt (bei Ptolemaeus).
Im 4. Jahrhundert wurde die Stadt Bischofssitz. Westlich von Troyes fand 451 die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern zwischen Attila und Aëtius statt.
 

Die berühmte Ruelle des Chats – das Katzengässchen

Im 10. Jh. Residenzstadt der Grafen der Champagne – im Besitz des Grafenhauses Vermandois, einer Linie der Karolinger.

Unter der Herrschaft der Grafen der Champagne organisierte sich einer der ersten Geldmärkte Europas.

In Troyes wirkte unter anderem Raschi (1040–1105), einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Seine Familie besaß einen Weinberg, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestritt. Sein Vater war ein Gelehrter und der erste Lehrer seines Sohnes.
1055 ging Raschi zunächst nach Mainz und dann nach Worms, um dort an den jüdischen Lehrhäusern, die zu den bedeutendsten in Europa gehörten, zu studieren.

Seine berühmten Kommentare, die er in Troyes niederschrieb, werden noch heute in den meisten jüdischen Bibeln und im Talmud mit abgedruckt.

Moses mit den Gesetzestafeln

Troyes – ein zweites Rom?
Nicht nur im Mittelalter, auch noch während des ganzen 16. Jh, trafen sich in Troyes die besten Baumeister, Steinhauer, Holzschnitzer und Glasbläser ihrer Zeit.

Es gab hundert Türme in der Stadt, was ihr tatsächlich den Ruf eines zweiten Roms eintrug.

 Nachstehend das runde Haus des ehemaligen Goldhändlers Rouze

Auf der Suche nach dem Heiligen Gral

Im Jahr 1129 fand hier das Konzil von Troyes statt. Heute ist nur noch einer der damals verhandelten Tagesordnungspunkte bekannt: Der Orden der Tempelritter (Arme Ritterschaft vom salomonischen Tempel) erhielt hier seine feste Regel. Anwesend waren die Templer Hugo von Payns und Andreas von Montbard. Umstritten war lange die Bedeutung, die Bernhard von Clairvaux auf dem Konzil spielte.
Etwa zur gleichen Zeit wie das Konzil wurden in Troyes zwei der sechs Jahrmärkte oder Messen abgehalten, für die Champagne berühmt war. Hier wurden Waren von den Niederlanden (Tuch) bis Italien (Seide, orientalische Waren) gehandelt.

Chrétien de Troyes

Als Troyes Residenz der Grafen von Champagne war, wirkte hier der mittelalterliche Dichter Chrétien de Troyes (etwa 1140–1190). Auf ihn geht die Parzival-Erzählung um die Suche nach dem Heiligen Gral zurück.

Troyes ist heute eine Wohlfühlstadt: Die vielen farbenprächtigen mittelalterlichen Häuser mit ihren Fachwerkmauern, Spitzgiebeln, Erkerbauten und Türmchen sind eine Augenweide!
Als ich mich im September 2015 für zwei Tage hier aufhielt, erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch im Jahr 2004 und daran, dass ich hier den besten Cappuccino meines Lebens getrunken hatte. Und siehe – ich entdeckte das Café wieder und der Cappuccino war noch immer extrem lecker! (Lag aber vielleicht an der großen Portion Sahne obenauf oder auch nur daran, dass ich hundemüde war vom vielen Herumlaufen und Fotografieren.)

Es existiert ein weiterer Troyes-Bericht über die interessante Kirche Sainte-Madeleine!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Helene L. Köppel

Vézelay – Wächterin des Geistes im Herzen Frankreichs

(Die Fotos können angeklickt und vergrößert werden)

Vézelay liegt im Burgund, auf einem Hügel im nordwestlichen Zipfel des Morvan, zwischen Avallon und Clamecy. Nach Auxerre sind es ungefähr 45 km.
In dieser Stadt rief Bernhard von Clairvaux am Ostersonntag des Jahres 1146 zum zweiten Kreuzzug auf, und zwar am gegenüberliegenden Hügel Asquins, wo sich Hundertausend Soldaten und Bauern versammelt hatten. An seiner Seite befanden sich Ludwig VII., seine Gemahlin Alienor und die Grafen von Flandern und Toulouse.
Im Jahr 1166 sprach hier Thomas Becket, als Erzbischof von Canterbury ins Exil vertrieben, den Bannfluch über König Heinrich II. aus. Dreißig Jahre später, im Jahr 1190 trafen sich zu Beginn des dritten Kreuzzugs König Philipp II. und Richard Löwenherz in Vézelay.

Die Geschichte von Vézeley geht auf eine Abtei zurück, die im 9. Jh von einem Fürsten, namens Girart de Roussilon gegründet wurde. Das ursprüngliche Kloster, das von Nonnen bewohnt wurde, musste nach der Plünderung durch die Normannen auf einen Nachbarhügel verlegt werden.
Die berühmte Basilika Sainte-Madeleine

…  wurde im 12. Jahrhundert erbaut (Hochromanik und Gotik); später jedoch durch Religionskriege und Revolution verwüstet. Im Jahr 1819 wurde die Basilika auch noch von einem Blitz getroffen und geriet anschließend völlig in Verfall – bis Prosper Mérimée (einer der Retter von Carcassonne) die Behörden auf den schlimmen Zustand aufmerksam machte. Ein weiterer Retter von Carcassonne, der damals 26jährige Architekt Viollet-le-Duc, wagte sich an die Restaurierung. Es gelang ihm, die Basilika zu retten und zu dem Schmuckstück zu machen, das sie heute ist.


Die Fassade soll allerdings nur ein Abglanz des mittelalterlichen Bauwerks sein, denn sie wurde von Le Duc nach alten Vorlagen völlig neu geschaffen. Seit 1979 ist die Basilika UNESCO-Weltkulturerbe.

Die Schutzheilige Maria Magdalena

hat Vézelay zu einem bedeutenden Wallfahrtsort und Ausgangspunkt einer der Routen des Jakobsweges nach Santiago de Compostela gemacht. Der Name von Vézeley wurde so berühmt wie Rom und Jerusalem und die Stadt zählte 10 000 Bewohner. Doch was genau war der Auslöser des Hypes?

Ein Mönch namens Badillon war im 9. Jh nach Saint-Maximin gesandt worden, mit dem Auftrag, die Reliquien Maria Magdalenas zu holen, die dort verehrt wurden. Im Jahr 1037 stellte sie der damalige Abt Geoffroy erstmals an einem Festtag zur Schau. Sofort geschahen Wunder, deren Ruf sich verbreitete, und die Pilger strömten nur so herbei.
Im Jahr 1050 stellte ein päpstlicher Brief die Abtei unter den Schutz der damals noch “reuigen Sünderin”. Im Jahr 1096 veranlasste der damalige Abt Artaud den Bau der Basilika, die schon am 21. April 1104 eingeweiht wurde. Doch die Vézelayer selbst waren nur wenig “amused”, denn die Steuern waren kräftig erhöht worden. Sie rotteten sich zusammen und ermordeten den Erbauer. 🙂


Im 12. Jahrhundert war Vézelay dennoch das unangefochtene Zentrum des Magdalenenkultes, doch schon hundert Jahre später brach der Zustrom der Pilger ab, denn es hatte sich herumgesprochen, dass sich die “echten” Reliqiuen der Maria Magdalena nicht in Burgund, sondern in Saint-Maximin in der Provence befanden, wo man in einem Sarkophag den ganzen Körper der Maria Magdalena gefunden haben wollte.

Da machte sich im Jahr 1267 der Heilige Ludwig selbst auf den Weg nach Vézelay, um den Glanz und die Größe der Stadt zu schützen. Begleitet wurde er vom päpstlichen Botschafter und dieser erklärte die Reliquien der Maria Magdalena feierlich als echt. Aber die Pilger hatten schon den Weg nach Vézelay vergessen …
Die im 13. Jh. ansässigen Benediktiner wurden von Stiftsherren abgelöst, später fiel die Abtei den Verwüstungen der Hugenotten zum Opfer.

 Weitere Fotos der Basilika

Das berühmte Tympanon des Mittelportals aus dem 12. Jahrhundert musste nicht restauriert werden. Es ist Christus gewidmet, dessen ausgestreckte Hände den Heiligen Geist auf die zwölf Apostel übertragen.

Das Kirchenschiff selbst ist 62 Meter lang und 18 m hoch, von niedrigeren Seitenschiffen begleitet.

Wirkt es von außen gedrungen, überrascht das Innere der Basilika durch seine Helle und Luftigkeit.

Die Vorhalle wurde als Pilgerkirche Ende des 12. Jh angebaut. Ihre Weiträumigkeit (22 m lang, 23, 5 m breit und 19,5 m hoch) entsprach dem großen Pilgerzustrom dieser Zeit.

Das Kircheninnere

Schöne Kreuzrippen-
Gewölbe!

Die Kapitelle Salome mit dem Kopf Johannes des Täufers in der Hand
Die Skulpturen zeigen Geschichten aus der Heiligen Schrift und dem Leben der Heiligen;
in Vézelay kann man aber auch heidnische Darstellungen entdecken: z.B. Entführung des Ganymed, sowie wilde Szenen aus der Hölle.

Überall an den Kapitellen Akanthusblätter – früher Hinweise auf versteckte Geheimnisse -,

aber auch Jagdszenen mit Pfeil und Bogen sind zu sehen.

Der Höhepunkt von Vézelay liegt in der Tiefe – die Krypta

Die unter dem Chor liegende Krypta stammt noch aus der karolingischen Zeit. Sie ist der älteste Teil der Basilika, im 12. Jh wurde jedoch der Boden 70 cm tiefergelegt und die Decke gestützt. Sie weist noch Spuren von Malerei auf.

In einem vergitterten Schrein (s. Foto oben) werden hier die Reliquien der Maria Magdalena aufbewahrt:

Das Kloster

Am äußeren Ende im südlichen Querschiff befindet sich der Kapitelsaal, der aus dem Anfang des 13. Jh stammt. Er trägt ein Kreuzgewölbe, das sich auf Kragsteine stützt, die ebenfalls mit Akanthusblättern verziert sind. Der Saal erhält sein Licht an der einen Seite durch rundbogige Fenster, auf der anderen Seite ist er mit einer Galerie des Kreuzganges durch rundbogige Öffnungen verbunden, die von Viollet-le-Duc erneuert wurden.

Es wurde schon dunkel, als ich im September 2015 die Basilika von Vézelay verließ – natürlich mit dem Versprechen, noch einmal wieder zu kommen …

LESEN HÄLT WACH – garantiert!

VOLTAIRE und die “Affäre Calas”

Correspondance Voltaire

Als im Jahr 2008 nach intensiven Quellenstudien mein Roman über den Justizskandal “Jean Calas” erschien (Aufbau-Verlag, Berlin), bat mich die Voltaire-Stiftung in Bad Liebenwerda (Correspondance Voltaire) um einen Artikel für ihre Website.
Diesen Beitrag stelle ich nun – unter Verwendung eigener Toulouse-Fotos (2004) hier auf meiner Website ein:

UM WAS GING ES IM FALL CALAS:

JEAN CALAS, Tuchhändler und Hugenotte aus Toulouse wurde am 18. November 1761 vom Toulouser Capitoul für schuldig befunden, seinen Sohn umgebracht zu haben. Man warf ihm vor, er habe verhindern wollen, daß dieser zum katholischen Glauben übertritt. Am 10.3.1762 wurde Jean Calas bei lebendigem Leib aufs Rad geflochten, wo er starb. Voltaire erreichte in einer 3 Jahre dauernden europaweiten zäh und mit erheblichen finanziellen Mitteln geführten Kampagne, daß dieser abscheuliche Justizmord als solcher anerkannt werden musste und die Angehörigen Calas eine Entschädigung erhielten.

VOLTAIRE und die “Affäre Calas”  von Helene L. Köppel

Was soll man einem Menschen antworten, der einem sagt, dass er lieber Gott gehorche als Menschen und der sich folglich sicher ist, sich den Himmel zu verdienen, wenn er einen erwürgt?“, schreibt Voltaire im Artikel ‘Fanatismus’ seines Phiolosophischen Wörterbuchs. Diese Warnung bezieht sich auf die Fundamentalisten seiner Zeit –  im besonderen Maße aber auf den Fall des Hugenotten Jean Calas, für dessen Rehabilitierung er sich 1762 mit großer Zähigkeit und erheblichem finanziellen Engagement eingesetzt hat.
 

Jean Calas, ein bis dahin rechtschaffener, unbescholtener und geachteter Tuchhändler in Toulouse, gehörte zu den wenigen Reformierten der Stadt, die es zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatten. Er wurde gemeinsam mit seiner Familie angeklagt, seinen Sohn Marc-Antoine erhängt zu haben. Begründung des Gerichts: Marc-Antoine habe sich vom reformierten Glauben abgewandt, um zum Katholizismus überzutreten.

Eingangstür Rue des Filatiers 50

Inschrift Calas Rue des Filatiers 50

“Haus von Jean Calas wo der Leichnam seines Sohnes Marc Antoine am 13. Oktober 1761 aufgefunden wurde.”

Rue des Filatiers 50 Innenhof

Was genau geschah am 13. Oktober 1761 in Toulouse, in der Rue des Filatiers 50?

Lavaisse, ein junger Freund der Familie kommt zu Besuch. Jean Calas, seine Frau und seine Kinder laden ihn zum Abendessen ein. Man speist gemeinsam, unterhält sich über familiäre Dinge und über die “Altertümer auf dem Rathaus” (umstrittene Kunstwerke). Man lacht miteinander.

Doch die Familienidylle ist trügerisch …

Voltaire schreibt ein Jahr später über diesen Abend (er leiht seine Stimme der Ehefrau und Mutter):
“Da wir am Nachtische waren, steht dieses unglückliche Kind, ich meine meinen ältesten Sohn Marc-Antoine, von der Tafel auf und geht durch die Küche, wie es seine Gewohnheit war, hinweg. Die Magd sagt zu ihm: Frieren Sie, Herr Calas? Wärmen Sie sich hier!
Nichts weniger, antwortet er, ich bin im Gegenteil ganz erhitzt! Um ungefähr 9 3/4 Uhren nahm unser Besuch Abschied von uns, wir gaben unserem zweiten Sohn die Fackel, den Gast zu begleiten und den Weg zu weisen. Sie gingen miteinander hinunter. Im Augenblick aber, als sie drunten waren, hören wir lautes Geschrei und Lärm, konnten aber nicht unterscheiden, was man redete. Mein Mann lief hinzu, ich aber blieb zitternd auf der Galerie, ich durfte nicht hinunter gehen, ich wusste nicht, was es wohl sein möchte …”

Was es wohl sein möchte?

Marc-Antoine hängt tot am Türrahmen des im Keller befindlichen, väterlichen Kontors. Hat er sich umgebracht, weil man ihm, als Hugenotte, nach abgeschlossenem Jurastudium die Ausübung des Berufes verbot? Marc-Antoine war in den Wochen zuvor schwermütig gewesen.

Jean Calas, sein Vater, 64 Jahre alt – entsetzt, erschüttert –  weiß, wie man in Toulouse mit Selbstmördern verfährt: Sie werden mit dem Gesicht nach unten zum Richtplatz geschleift, man bewirft sie mit Steinen und hängt sie an den Galgen.
Diese Schmach will er seiner Familie und seinem toten Sohn ersparen.

Und nun begeht Jean Calas den größten Fehler seines Lebens:

Er beschließt, den Suizid als Mord hinzustellen:  Ein Fremder muss das Abscheuliche getan haben! Das ist für ihn, in dieser furchtbaren Stunde, die Wahrheit! Das Unglück spricht sich noch in der Nacht wie ein Lauffeuer herum und ruft die Bruderschaft der Weißen Büßer * auf den Plan, erbitterte Feinde der Hugenotten, fanatische katholische Glaubenswächter. Die Büßer, angetan mit weißen Kutten und langen spitzen Kapuzen mit Augenschlitzen, nutzen die Situation, um es den Hugenotten wieder einmal zu zeigen: Sie rotten sich zusammen, eilen zum Haus der unglücklichen Familie, schreien:

“Es  ist sein Vater und seine protestantische Blutsverwandtschaft, die ihn ermordet hat; er hat wollen katholisch werden, er sollte den folgenden Tag abschwören, sein Vater hat Hand an ihn gelegt und ihn erwürget. “

Die Gerichtsbüttel kommen. Die Stimmung heizt sich weiter auf. Die halbe Stadt läuft zusammen. Obwohl die katholische Magd ihren langjährigen Arbeitgeber und auch alle anderen Anwesenden entlastet, wird die gesamte Familie verhaftet, auch die Magd. Alle werden sie an “Eisen und Band” geschlossen, das Familienvermögen wird, wie es jahrhundertelang die Inquisition vorgemacht hat, eingezogen. Jean Calas klagt man des Kindesmordes an; den Hausgast Lavaisse bezichtigt man, Henker einer protestantischen Versammlung zu sein, “die jeden erwürgte, der die Religion ändern wolle”. Dies sei “die gewöhnliche Jurisprudenz der Protestanten”, heißt es in der Stadt. Gerüchte laufen von Haus zu Haus, von väterlichen Drohungen ist die Rede. Nicht wenige Leute bilden sich ein, Marc-Antoines gellende Stimme in der Nacht gehört zu haben.

Richter des Toulouser Gerichts

Das Urteil

Am 9. März 1762 sprechen die Richter mit einer Mehrheit von acht zu fünf Stimmen Jean Calas schuldig und verurteilen ihn zum Tode durch das Rad. Sein jüngster Sohn Pierre wird auf Lebenszeit aus Frankreich verbannt, die Töchter ins Kloster gesteckt, die anderen Angeklagten werden freigesprochen. Weil Jean Calas auch nach dem Urteil kein Geständnis ablegt, kommt die Folter zum Einsatz.

Mit Feuer bringt man seine Zehen und Finger zum Platzen und enthäutet sie. Doch Jean Calas bleibt standhaft.

Seine letzten Worte waren: “Ich habe die Wahrheit gesagt, ich sterbe unschuldig …” Danach zerschlug ihm der Henker mit einer Eisenstange Knochen und Rückgrat, um ihn aufs Rad flechten zu können, wo Calas noch so lange litt, bis man ihn gnädigerweise erwürgte. Seine Asche wurde in alle Winde zerstreut.

Die Rolle der Justiz im Fall Calas

Zwar war das Strafverfahren für ganz Frankreich seit dem Jahr 1670 durch die Ordonnance Criminelle einheitlich geregelt, in der Praxis sah es jedoch anders aus. Die “Capitouls” (Konsuln) von Tolouse – einige gehörten der oben genannten Bruderschaft der Weißen Büßer an  – waren die Richter der ersten Instanz. Das Strafrecht des Ancien Régime kannte keine Gewaltenteilung. Es sah keinen Anwalt für den Angeklagten, auch keine Gegenüberstellung mit den Zeugen vor. Stattdessen machte das Gericht vom sogenannten Monitoire Gebrauch, ein Aufruf zur Denunziation an jedermann. Vermutungen, Erzählungen vom Hörensagen – alles absolut geheim – wurden in Viertel- und Achtel-Beweisen umgemünzt, addiert, so daß aus 4 Viertel-Beweisen ein ganzer Beweis wurde! Jean Calas erhielt auch keine Abschriften über diese Aussagen.
Das Todesurteil stützte sich also auf reine Indizien und mehr oder weniger fingierte oder zurechtgebogene Zeugenaussagen.

“Auf diesen Wahn hat man das Urteil gegründet”, kommentierte Voltaire dies später. Die einzige Möglichkeit, das Urteil aufheben zu lassen, bestand für Calas darin, den königlichen Gerichtshof, das sog. Parlement, anzurufen, doch dieses – erzkatholisch und erzkonservativ – stützte sich einzig auf die “Fakten” aus der ersten geheimen Verhandlung. Unter solchen Bedingungen hatte der Hugenotte Jean Calas keine Chance auf eine gerechte Verhandlung.

Die Rolle der römisch-katholischen Kirche und der Weißen Büßer

Obwohl es keinen Beweis gab, dass Marc-Antoine Calas je die Absicht hatte, konvertieren zu wollen, nutzte die katholische Kirche die Gelegenheit, indem sie Gerüchte streute, ihre “eigenen Wahrheiten” verbreitete, den Pöbel aufputschte – ja, sogar veranlasste, dass Marc-AntoinDie Büsser heute - imme rnoch aktiv!e Calas als Katholik (der er nicht war!) und Märtyrer begraben wurde.
Die Weißen Büßer hielten ein feierliches Hochamt für den Jungen ab, errichten ihm ein prächtiges Grabmal, auf das man sein Bildnis stellte, mit einem Palmzweig in der Hand.
“Das Wort Kindesmörder und – was noch schlimmer war – Hugenotte ging in der ganzen Provinz von Mund zu Mund”, schreibt Voltaire in seinem Philosophischen Wörterbuch.

Was Jean Calas` Verurteilung und Hinrichtung noch beschleunigte, war, so Voltaire, die Nähe zu dem berüchtigten Fest, das die Toulouser jährlich zum Andenken an die Niedermetzelung der viertausend Hugenotten feierten (200-Jahr-Feier, 1562-1762!).
Die fanatischen Büßer erklärten dabei öffentlich, das Schafott, auf dem man Calas rädern werde, würde die größte Zierde des Festes sein, und die Vorsehung hätte dieses Schlachtopfer beschert, damit es der heiligen Religion dargebracht werden konnte.

Voltaire – das Gewissen Frankreichs – schaltet sich ein

Voltaire ist 68 Jahre alt und krank, als er von der Affäre Calas hört. Zunächst von der Schuld des Jean Calas überzeugt, beginnt er bald zu zweifeln. Er untersucht den Fall und stellt fest, dass eine solche Verschwörung unmöglich sei: “Wie hätte der Vater, selbst mit starker Beihilfe anderer, seinen Sohn an beide Flügel einer Türe auf dem untersten Stockwerk aufhängen können, ohne gewaltigen Kampf und Widerstand, ohne greulichen Tumult?”


Voltaire besitzt einflussreiche Freunde

Er ruft ein Komitee ins Leben, das ihn bei seinen Bemühungen um eine Revision unterstützt. Er will gewinnen – und zugleich die Ehre der Familie Calas wiederherstellen. Er verpflichtet Anwälte und – das Wichtigste! – er setzt ersmals in der Geschichte das ein, was heute eigentlich die PresseBrief der Witwe Calas in deutscher Überseztung übernehmen sollte:

Voltaire stellt die Öffentlichkeit her!

Er verfasst sog. Denk- und Schutzschriften im Namen der Witwe Calas und ihrer Söhne und verschickt sie auf eigene Kosten in halb Europa (auch in Deutschland). Sein Vorhaben gelingt: Endlich nimmt sich der König des Falles an und rehabilitiert die Familie Calas. Am 9.3.1765 verkündet der Kronrat posthum die Unschuld von Jean Calas. Im September 1762 antwortete Voltaire auf die Frage, warum er sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Calas einsetzte: “Weil sich sonst keiner darum gekümmert hat.”

Voltaire hat zum einen die Richter angeklagt, auf das unsägliche Monitoire verwiesen (s.o.) –  und er hat den Blick auf England gerichtet, das damals bereits die Religionsfreiheit garantierte. Die Hauptschuld für diesen Justizskandal sah er jedoch bei den Fanatikern, der katholischen Kirche, den Weißen Büßern von Toulouse  – und dem “Geschrei des rasenden Pöbels”, dem unaufgeklärten, ungebildeten Volk.
(Voltaire: “… es ist nicht alles verloren, wenn man das Volk in den Stand setzt, zu merken, dass es einen Geist hat.”)

Was bleibt?

Dass Voltaire am Beispiel Calas für eine umfassende Strafrechtsreform eintrat und England, wo Gerichtsverhandlungen nicht geheim waren, als glühendes Beispiel hinstellte, hat in Frankreich dafür gesorgt, dass der Willkür der Richter ein Riegel vorgeschoben wurde.

“Unser Ziel muss sein, die Fanatiker um ihren Einfluss zu bringen!”

Dass sich Voltaire 1763 in seiner Schrift “Über die Toleranz” (Traité sur la tolérance) vehement für Religionsfreiheit aussprach und nachwies, dass Jean Calas vor allem ein Opfer des Fanatismus wurde, ist für uns alle Verpflichtung, wachsam zu sein.

Voltaire hat die Affäre Calas für die Fortführung seines eigenen Kampfes gegen Fanatismus und Aberglauben benutzt. Dabei setzte er auf Vernunft, Toleranz und Bildung – und auf öffentlichen und freien Zugang zu allen Informationen – hohe Güter, die auch heute, im 21. Jahrhundert, von uns gehegt, beschützt und verteidigt werden müssen.

Helene Luise Köppel

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Fotos: Helene L. Köppel privat

Quellen:

Authentische Briefe welche das traurige Schicksal der reformierten Familie Calas zu Toulouse nach der Wahrheit vor Augen legen”, aus dem Französischen übersetzt, 1762, 44 S. (in Privatbesitz Helene L. Köppel)

Albert Gier/Chris E. Paschold”, Voltaire. “Die Toleranz-Affäre”, Bremen, 1993

“Voltaire – Über die Toleranz, 1763, in: “Recht und Politik”, Hg. und Nachwort von Günther Mensching, Frankfurt/M. 1978

Zitate:

Voltaire “Für Wahrheit und Menschlichkeit”, Stuttgart 1939
Voltaire “Korrespondenzen aus den Jahren 1749 bis 1760, Leipzig 1978
Voltaire ” Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1984

Belletristik:

Helene L. Köppel, “Die Affäre Calas”, Berlin 2008; “Die Affäre C.”, 2013, Taschenbuch u. E-book

Neuauflage 2013 “Die Affäre C.”, Taschenbuch und E-book:

Anmerkung:

* Weiße Büßer von Toulouse: Diese Bruderschaft wurde Anfang des 13. Jahrhunderts in Toulouse gegründet, um das Kreuzfahrerheer im Kampf gegen die Katharer zu unterstützen; 1614 Neugründung; sieben eigene Häuser in Toulouse, relativ unabhängig von der römisch-katholischen Kirche; am Gründonnerstag zog die Bruderschaft in stundenlanger Prozession durch die Stadt.

 

 

 

Und der Größte unter ihnen war der Hund …

Die Baumeister aus dem Mittelalter

Noch immer umgibt die Baumeister aus dem Hochmittelalter – vor allem diejenigen, die die neue Kunst des Kathedralbaus beherrschten – eine geheimnisvolle Aura. Ich bin ihnen seit Jahren auf der Spur, fotografiere ihre persönlichen Zeichen, die manchmal Runen ähneln oder eben Freimaurer-Symbolen, wie zum Beispiel in der Kirche von Orcival (Auvergne).

Goethe schreibt über die Baumeister aus dem Mittelalter:

Ihre großen Vorteile: durch geheime Zeichen und Sprüche sich den ihrigen kenntlich zu machen … organisiert denke man sich eine unzählbare Menschenmasse durch alle Grade der Geschicklichkeit dem Meister an die Hand gehend, durch Religion begeistert, durch Kunst belebt, durch Sitte gebändigt; dann fängt man an zu begreifen, wie so ungeheure Werke konzipiert, unternommen und, wo nicht vollendet, doch immer weiter als denkbar geführt worden…”
(Über Kunst und Altertum in den Rhein- und Maingegenden)

Das verborgene Wissen der Baumeister

steckt ganz sicher auch in der Symbolkraft ihrer Arbeit und ihrer Werkzeuge z.B. Zirkel, Senklot, Richtscheit, Wasserwaage, Winkelmaß.

(Baumeister aus dem Mittelalter mit Phrygischer Mütze, Holzschnitt von Jost Amann)

In der gotischen Ritterkapelle von Haßfurt (1431 – 1465 + spätere Renovierungen) habe ich auf dem Fenster hinter dem Altar einen solchen Baumeister entdeckt: 

Nikolaus, so sein Name, misst mit der rechten Hand den Winkel (oder handelt es sich um den geheimen Lehrlingsgruß?), mit der linken hält er das Senklot. Sein persönliches Zeichen (schwarz auf gelbem Grund) befindet sich etwas unterhalb auf dem grauen Baumeisterschurz (?).

Je nach dem Grad seiner Weihen wurde ein sog. Dévorant (ein Mitglied der jeweiligen Baumeisterbruderschaft (wie z.B. die Kinder Salomos) FUCHS, WOLF oder HUND genannt, wobei es heißt, der HUND sei der Baumeister mit der größten Würde gewesen.

Der französische Autor Gérard de Sède (1921-2004) schreibt darüber, dass der Eingeweihte des ersten Grades FUCHS  hieß, der des zweiten Grades WOLF, aber nur derjenige, der nach fünf Jahren Probezeit sein Meisterstück vollendet hätte, würde auch die Weihen des dritten Grades erreichen und HUND genannt werden.

Dass ich in der Ritterkapelle tatsächlich auf einen solchen HUND traf, hoch oben im Konsolenbereich, hat mich dennoch überrascht.
Er ist so schwarz wie das Wams und der Hut des Baumeisters, der einen Ehrenplatz auf dem Kirchenfenster der Ritterkapelle zu Haßfurt erhielt.

Aber gab es denn in Haßfurt überhaupt eine Baumeister-Zunft in dieser Zeit?

Das, was Dr. Jürgen Lenssen, Domkapitular in Würzburg, in der kleinen Broschüre über die Ritterkapelle zu Haßfurt schreibt, deutet für mich stark auf eine solche Bruderschaft hin:

“An der Stelle der ehemaligen Pfarrkirche von Haßfurt errichtete die 1402 vom Stadtpfarrer Johann Ambundi und dem Ritter Dietrich Fuchs von Wallburg gegründete Bruderschaft von Klerikern und Laien eine Marienkapelle, deren Chor 1431 begonnen und 1465 geweiht wurde.”

Zwei Legenden um die Baumeisterwürden

FUCHS, WOLF und HUND

Der Sage nach soll ja der Teufel selbst den Kölner Dom entworfen haben – die Glocken jedoch seien unter seiner Anweisung in der Gießerei eines mysteriösen Schmiedes namens WOLF gegossen worden.
Die Chansons de gestes (11.-13. Jh) hingegen erzählen eine etwas andere Version, in der die Erbauer des Kölner Doms einen Helden (?) namens Renaud (FUCHS) töteten.
Ein weiterer Baumeister – dieses Mal mit dem Namen WOLF,  wird wiederum mit dem Bau der Gruft Karls des Großen in Aachen in Zusammenhang gebracht.

In Haßfurt gibt es viele Baumeisterzeichen …

Der Grüne Mann von Hassfurt

Drei Köpfe, darunter ein sog. “Grüner Mann” (heidnisches Fruchtbarkeitssymbol). Leider sind die grünen Blätter irgendwann übermalt worden. Auch hier hat sich wieder ein Baumeister “verewigt” (unterhalb des steinernen Zierrats):

Auf dem Foto oben gibt es gleich zwei Baumeisterzeichen zu bewundern. Über dem Kamel sinnigerweise eines in Pyramidenform.

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Abschließend noch ein Foto vom gotischen Altar und dem dahinter liegenden farbigen Kirchenfenster, auf dem sich – direkt neben dem Kopf der Gottesmutter – Nikolaus, der HUND befindet, der Baumeister mit der größten Würde … 

  • Ein letztes Wort:

    Mittelalterliche Baumeister verzierten ihr wichtigstes Instrument, den Zirkel, gerne mit dem Wahlspruch:
    DIRIGO ET DIRIGOR – Ich lenke und werde gelenkt.
     

    In bedeutenden Kathedralen – wie zum Beispiel in Chartres (Nordfrankreich) war es oft der Bischof selbst, der mitunter den “HUND” gab und den Baufortschritt mit Zirkel und Argus-Augen überwachte – hier ein Fenster der Krypta, das Bischof Fulbertus von Chartres (925 – 1028) mit dem Stechzirkel zeigt:

(Empfehlenswerte, anschauliche Lektüre: “Was ist Gotik”, von Günther Binding; “Die Zeit der Kathedralen”, von Georges Duby; “Die Geheimnisse der Kathedrale von Chartres”, von Louis Charpentier; u. a.)

Alle Fotos von HLK, 2009, 2012 bzw. 2013)

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Helene L. Köppel